©Kamil Groot
Durch die von der EU geförderte Initiative „Youth Exchange“ kamen Ende August 31 Jugendliche aus Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland plus 5 Leitungspersonen (davon zwei aus dem ZEGG) zum Austausch für 10 Tage ins ZEGG. Hier der Bericht von Łukasz Woźniak, einem der Teilnehmer.
Stell dir vor, du betrittst einen geräumigen Raum mit bequemen Sofas und farbenfrohen Wänden. Angenehme warme Lichter schaffen eine sichere Atmosphäre. In der Mitte befinden sich gut positionierte Blumen und Kerzen sowie ein Kreis mit kleinen Elementen - Kieselsteinen, Holzstücken und Blättern - rundherum. Während du Platz nimmst, begegnest du einem sanften Lächeln und den Blicken anderer Menschen, die genauso offen und neugierig sind wie du. Du kennst ihre Namen noch nicht, aber bald werdet ihr ein Stamm sein.
Ena, die Gruppenleiterin, beginnt, ein Gedicht vorzulesen. Das Gedicht heißt "Die Einladung".
Es ist nicht wichtig für mich, wie Du Dein Geld verdienst. Ich möchte wissen, ob Du es wagst, der Sehnsucht Deines Herzens zu folgen.
Es ist nicht wichtig für mich, wie alt Du bist. Ich möchte wissen, ob Du Dich traust, wie ein Narr auszusehen, weil Du Deine Liebe zeigst, Deine Träume lebst und wirklich lebendig bist.
Ich möchte wissen, ob Du mit Schmerz umgehen kannst, meinem oder Deinem Schmerz,ohne ihn verstecken, verändern oder überspielen zu müssen. Ich möchte wissen, ob Du voller Freude sein kannst, meiner oder Deiner Freude, ob Du voller Wildheit tanzen kannst, ob Du die Ekstase von Deinen Fußsohlen bis zu Deinen Haarspitzen fließen lassen kannst. ohne zu versuchen, vorsichtig zu sein, realistisch zu sein, ohne zu versuchen, dich an die Begrenzungen des Menschseins zu erinnern...".
So starteten wir die fünfte Ausgabe von "Youth on earth - yes we (c)are". Ein Jugendaustausch, der zwischen dem 23. August und dem 4. September im Ökodorf ZEGG in Deutschland stattfand. Die im Rahmen von Erasmus+ finanzierte Erfahrung bot Raum und Zeit, um sich selbst die großen Fragen zu stellen: Was will ich wirklich erreichen? Wie und warum suchen wir Menschen nach Verbindung? Was ist das authentische Selbst, wann kann ich meine Stärken und Grenzen frei erforschen? Was verlieren wir, wenn wir uns von der Erde trennen, und wie können wir uns wieder mit der Natur verbinden?
©Łukasz Woźniak
Dieser Ort ist der Ort
Das Ökodorf ZEGG - Zentrum für Experimentelle Kulturgestaltung -, in dem dieses Erasmus+ Projekt stattfindet, ist der ideale Rahmen, um vom Alltag loszulassen und unsere tiefsten Sehnsüchte zu enthüllen. Entstanden aus einer Gruppe von 40 Personen, die in den späten 60er Jahren soziale Normen brechen wollten und mit freier Liebe und Gemeinschaftsleben experimentierten, hat sich ZEGG heute als ein kleines (fast) autonomes Dorf etabliert, in dem über 100 Menschen leben, arbeiten und miteinander ein anderes Lebensmodell aufbauen. Nur eine Stunde von Berlin entfernt, beherbergte uns diese Oase aus Holzhäusern, Gemeinschaftsräumen und Gemüsegärten 13 Tage lang und bot uns einen sicheren Raum, in dem wir uns von der Konditionierung der Mainstream-Kultur und dem überwältigenden Tempo des kapitalistischen Systems emanzipieren konnten. Wir hatten auch das Vergnügen, Zeit mit den Mitgliedern von ZEGG zu verbringen sowie zur Gemeinschaftsarbeit beizutragen. Wir lernten viel über nachhaltige und regenerative Lebensweisen, indem wir im Garten und in der Küche halfen und arbeiteten und uns um die Gemeinschaftsräume kümmerten.
Die Zeit wird anders wahrgenommen, wenn man sich längere Zeit in einer Gemeinschaft aufhält. Sie dehnt sich aus, aber sie vergeht auch schnell. Obwohl wir oft müde waren, wurden wir immer wieder angeregt und in der Gegenwart verankert. Diese Erfahrung gab uns die Möglichkeit, uns vom digitalen Stress zu distanzieren, während wir zum Beispiel unsere Beziehung zum Essen mehr schätzen lernten, indem wir zu einer einfacheren Ernährung mit Gemüse und Früchten zurück kehrten, bei deren Ernte und Zubereitung wir halfen, oder indem wir das sinnliche Potenzial des Essens auf die ursprüngliche menschliche Weise, mit bloßen Händen, erkundeten (danke, Andrea, für die Inspiration!).
Neben der Zeit, die wir mit der ZEGG-Gemeinschaft verbrachten, hatten wir jeden Tag Aktivitäten mit unserer Gruppe, die aus Jugendlichen verschiedener europäischer Länder bestand. Jeder Tag war einem bestimmten Thema gewidmet, wie z. B. Selbstbewusstsein, Kommunikation und Beziehungen, Naturverbundenheit oder die Queer-Bewegung. Im Laufe der Tage haben wir uns mit sensibleren Themen befasst, die in der Gesellschaft selten angesprochen werden - wie Liebe, Beziehungen, Geld und Identität. Der gesamte Kurs war so aufgebaut, dass er uns immer tiefer miteinander verband und uns gleichzeitig die Werkzeuge an die Hand gab, die wir brauchten, um uns selbst zu spüren und uns selbst ernst zu nehmen. Wir haben Fragen zu Themen gestellt, die in unserem Alltag normalerweise nicht angesprochen werden, da das Sprechen über sie Zeit und echte Neugier erfordert. Wir haben keine endgültigen Antworten gefunden, sondern vielmehr neue Ideen und geistige Nahrung, um mit neuer Energie weiter zu forschen.
©Łukasz Woźniak
Inklusivität durch doppelte Aufmerksamkeit: für sich selbst und für den anderen
Durch die praktische und theoretische Erforschung des Nervensystems und unserer automatischen Reaktionen haben wir uns eingehend mit der Verbindung zwischen Körper und Geist befasst. Dieses Wissen ist sehr nützlich, denn wenn wir Emotionen als Signale unseres Körpers begreifen, können wir uns selbst besser respektieren und gesunde Grenzen setzen. Wir kamen auf das Thema Konsent zu sprechen und übten zum Beispiel, zu bestimmten Vorschlägen "Nein" zu sagen, aber gleichzeitig in der Lage zu sein, dieses "Nein" auch zu empfangen. Diese Aktivität trug dazu bei, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem wir uns auf ein gemeinsames Verständnis stützen konnten, was gegenseitige Akzeptanz und Respekt bedeuten. Wir lernten, dass echte Fürsorge, für den anderen da zu sein, auch bedeutet, unsere eigenen Bedürfnisse zu respektieren. Von da an war es leichter, dankbar anzunehmen, wenn der andere seine Grenzen setzte: Es wurde zum Synonym für das Kümmern um die Beziehung.
Wir arbeiteten so gut wie möglich daran, durch aufrichtige Präsenz füreinander da zu sein. Wir übten uns im tiefen Zuhören und spiegelten uns oft gegenseitig. Eine Übung, die wir zum Beispiel machten, bestand darin, den Redner anzuhalten, wenn wir das Gefühl hatten, dass wir einen Moment brauchten, um das Gesagte zu verinnerlichen. Diese einfache Geste, die alles andere als gewalttätig war, brachte die Sprechenden einander näher und verband sie, da beide davon überzeugt waren, dass sie ehrlich und innerhalb ihrer eigenen Grenzen interagierten.
Wenn du dir Beziehungen als Verbindungsfluss vorstellst, kannst du sie wie Flüsse visualisieren, mit Felsen und Steinen, die den Fluss behindern. Es ist meist schwer zu erkennen, was unter der Oberfläche liegt und das Wasser blockiert: Vielleicht habe ich einmal "Hallo" gesagt und du hast nicht geantwortet, oder vielleicht erinnerst du mich an jemanden, den ich früher kannte, oder vielleicht etwas ganz anderes. Manchmal kann es sein, dass es Hindernisse gibt, die mich daran hindern, eine freie Verbindung zu dir herzustellen. Wenn man diese Hindernisse direkt, aber sorgfältig benennt und ausdrückt, kann man das Wasser reinigen und den Fluss wieder freigeben. Wir haben dies mit einer Übung namens "withhold sharing" geübt, einem sehr mächtigen Werkzeug, das uns geholfen hat, uns selbst besser zu sehen, das Vertrauen zu stärken, gewaltfreie Kommunikation zu praktizieren und schließlich authentischere Beziehungen zu fördern. Wir stellten fest, dass wir keine Liebe geben können, ohne sie im Gegenzug zu erhalten.
©Łukasz Woźniak et Kamil Groot
Authentizität und tiefe Wiederverbindung erforschen
An einem Tag sind wir mithilfe einer Übung namens "Kernschalenmodell" den Umrissen unserer Persönlichkeiten näher gekommen: dem Selbstbild, an das wir uns klammern, um uns anzupassen und den Strategien, die wir entwickelt haben, um die Erwartungen des entmenschlichenden Systems, in dem wir normalerweise leben, zu ertragen. Sobald die Oberfläche überwunden war, war es möglich, den unterdrückten Emotionen, den abgewehrten Gefühlen zu begegnen. Und während wir uns erlaubten, tiefer in unser inneres Selbst hinabzusteigen, befand sich dort ein Kern, der die Grenzen des Selbst transzendierte, eine Essenz, die sich ausdehnte und das Ego auflöste.
Im Laufe der Zeit fühlten wir uns immer wohler dabei, uns zu öffnen und zu zeigen. Indem wir den Raum teilten und hielten, sowohl in Einzelgesprächen als auch im Kreis oder im "Forum", teilten wir immer mehr Intimität. Vor allem das Forum war für viele von uns eine transformierende Erfahrung. In diesem Raum kann jede/r einen persönlichen Prozess darstellen, der letztlich über die persönliche Ebene hinausgeht und an ein universelles menschliches Subjekt anknüpft. In einem Forum ist es möglich, das, was in einem selbst lebendig ist, mit der Unterstützung eines Kreises von Menschen zu erforschen und zu teilen. Unsere Moderatorin führte die Teilnehmenden durch die Entfaltung dessen, was da war und ans Licht gebracht werden sollte. Es war eine kraftvolle Gruppenerfahrung, die sich auch heute noch nicht in Worte fassen lässt.
Der Wald, der das Ökodorf ZEGG umgibt, war ebenfalls Teil unseres Erfahrungsraums. Indem wir uns von uns selbst zu etwas Tieferem und Höherem erhoben, überschritten wir die Grenzen menschlicher Beziehungen, um auch wieder mit der Natur in Verbindung zu treten. Durch einen Spaziergang und eine blinde Erkundung erlebten wir die Kraft, einfach mit der "natürlichen Welt" zu sein, indem wir unsere Sinne in den Gerüchen und Strukturen von Bäumen, Moos und Laub, Vogelgesang und der Feuchtigkeit des Bodens verankerten. Wir kamen als Teile der Natur zusammen, die durch einen einzigen Atemzug miteinander verbunden waren. Wir haben Liebe neu definiert, indem wir das, was an "Fürsorge" und Verbindung mit Naturwesen möglich ist, erweitert haben - auch als Naturwesen.
©Nolwen Vouiller
Alles Leben kommt aus dem Ozean
Als der Tag der Abreise näher rückte, begann uns ein Hauch von Nostalgie zu begleiten. Wie sollte man einen Ort verlassen, der sich wie ein Zuhause anfühlte, eine Gruppe, die wie ein Stamm war? Die Zeit, die wir zusammen verbrachten, war so intensiv: transformierende Verbindungen, erhellende Ideen, Tänze, Lachen und Tränen. Wir zeigten unsere verletzlichsten Wunden und fühlten uns mit bedingungsloser Akzeptanz aufgenommen. Wir entdeckten, dass wir als Ökosysteme miteinander verbunden sind, und genossen die immense Kraft der Liebe. Wie können wir nun in unseren Alltag zurückkehren? "Was wollen wir mit nach Hause nehmen?", fragten wir uns in einer der letzten Sitzungen. Jede von uns hatte ihre eigene Antwort, die uns auf unserer Rückreise durch Europa wie ein warmes Licht begleiten wird. Eine gemeinsame Erkenntnis blieb jedoch bestehen: Verbindung ist für das menschliche Leben von entscheidender Bedeutung. Eine sinnstiftende Erfahrung zu machen ist möglich, wenn wir es wagen, authentisch zu sein. Lasst uns die Botschaft jetzt weitergeben und uns gegenseitig helfen. Seelenflüsterer: Atme. Verankere dich, nähre deine Wurzeln. Füttere deine Flamme. Halte dein Herz offen. Verbinde dich wieder. Bewahre Raum für andere und für dich selbst. Fühle die Liebe und teile sie.
Jetzt atme tief durch und lese langsam, was Loki in Worte gefasst hat, zweifellos auf die schönste Weise, die man sich vorstellen kann:
In einer Welt, in der es den Herzen schwerfällt, zu verstehen,
gleicht der Schmerz des Einfühlungsvermögens Treibsand.
Wir tragen die Last der Verzweiflung anderer,
hre Hoffnungen und Schmerzen, die schwer zu tragen sind.
Tief in ihrer Dunkelheit wohnen wir oft,
Fühlen ihre Kämpfe, ihre emotionale Flut.
Das Gewicht der Empathie, eine unerbittliche Kette,
Ein unaufhörlicher Sturm, ein endloser Regen.
Aber inmitten dieses empathischen Konflikts,
sehnen wir uns danach, ein anderes Leben zu kosten.
Ein Reich, in dem die Liebe fließt, ungezügelt und frei,
Im Tanz der Leidenschaft, in dem wir uns sehnen, zu sein.
Die freie Liebe, wie sie genannt wird: eine Hymne der Herzen,
Wo das Urteil vergeht und die Zuneigung weitergegeben wird.
In diesem grenzenlosen Ozean hebt unser Geist ab,
Befreit von Grenzen, schwelgen wir im Licht.
In der Umarmung der freien Liebe finden wir unsere Befreiung,
Eine Symphonie der Sehnsucht, ein zeitloser Frieden.
Keine Mauern zum Eingrenzen, kein Urteil zum Binden,
Nur ungezügelte Liebe, unsere Seelen ineinander verschlungen.
Loki