Barbara Stützel vermittelt das ZEGG Forum auch international in Kursen und beleuchtet in diesem Artikel kulturelle Unterschiede, die sich in der Forumsarbeit in Brasilien und Frankreich zeigen: „Meine Art zu reisen ist speziell. Ich bereise am liebsten Menschen und lerne so andere Kulturen kennen. Seit ich 2008 auf Empfehlung von Achim Ecker und Ina Meyer-Stoll die erste spanische Woche angeboten habe, arbeite ich mit ZEGG Methoden in Spanien, Lateinamerika und Frankreich. Hier lerne ich Menschen auf eine tiefere Art kennen.

Ich habe neben diversen Grundkursen zu Forum und Gemeinschaft (auch in Ecuador und Kolumbien) auch Forumsleiterausbildungen durchgeführt. Aktuell habe ich in Brasilien zusammen mit Ita Gabert nach insgesamt 8 Jahren die dritte Leitungsgruppe in ihren Abschluss begleitet und in Frankreich zusammen mit Ena Rivière Feder die zweite gestartet. Und immer wieder gibt es Momente, wo ich denke: „Wie konnte ich so vermessen sein, etwas aus unserer deutschen Alternativkultur in andere Kontexte zu tragen?“

ForumBrasilien

Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich nie von mir aus Kurse in anderen Ländern initiiert habe. Der Ausgangspunkt waren immer Menschen in diesen Ländern, die das ZEGG und Forum kennengelernt hatten und mich eingeladen haben, auch dort zu arbeiten. Neugierig wie ich auf Menschen bin, bin ich dem gerne gefolgt. Die Sprachen, die ich schon sprach, habe ich soweit vertieft, dass sie für eine Kursleitung reichten. Denn das Forum in ihrer Muttersprache bietet mir die einzigartige Möglichkeit, Menschen tiefer in ihren Beweggründen zu sehen und zu verstehen. Das Forum hat mir selbst viele Erfahrungen geschenkt, mich als Mensch unter Menschen beheimatet zu fühlen. Daher ist mir ein Anliegen, diese Erfahrungen weiterzugeben. Und ich bin immer wieder berührt, wie gut es auch in anderen Kontexten ankommt.

Ursehnsucht nach Vertrauen und Heimat

Das Forum knüpft überall an Ursehnsüchte des Menschen nach Vertrauen und Heimat an: „Ich darf so sein wie ich bin – und werde gesehen – und entspanne mich dahinein – fühle mich zugehörig zur Menschenfamilie - und aus diesem Gefühl des Vertrauens heraus kann ich Feedback hören, neue Erfahrungen zulassen und mich verändern“. Diese Grundwelle des Forums funktioniert tatsächlich auch in anderen Ländern. Teilnehmerstimmen dazu lauten zum Beispiel:

„Ich hatte immer Angst vor Gruppen, dies ist das erste Mal, dass ich mich in einer Gruppe sicher fühle.“

„Dass ich Wut zeigen darf und mit Euch trotzdem in Verbindung bleibe, verändert mein Bild von Menschen.“

„Das Forum hat mein Leben verändert, ich habe wieder Vertrauen in Menschen gefunden.“

Dieser Artikel soll nun einige kulturelle Unterschiede beleuchten und neben den positiven Erfahrungen auch Schwierigkeiten benennen.

Brasilien

Sehr oft sprechen die Brasilianer:innen bei Erzählungen mit passiven Formulierungen, auch über Situationen, in denen ich – mit meinem Menschenbild der Selbstverantwortung - eine Entscheidung des Individuums sehe. Sätze wie: „dann ist es so passiert/ es hat sich nicht ergeben“ implizieren für mich oft eine Opferhaltung. Die Wortwahl suggeriert ein Ausgeliefertsein an Ereignisse, die Sprechende fühlt weniger Möglichkeiten, ihr Schicksal mitzubestimmen. Ich kann es aber auch auf eine andere Art betrachten und es als eine größere Hingabe an Ereignisse sehen, eine tiefere Akzeptanz des Lebensflusses, der mir in Deutschland manchmal fehlt.

Diese Sichtweise führt aber bei einer Ausbildung zur Gruppenleitung dazu, dass die Einflussnahme z.B. auf ein Gruppenfeld von den Brasilianer:innen zunächst deutlich unterschätzt wird. Kleine Beispiele, was den Unterschied zwischen einem gehaltenen Raum und einem beliebigen ausmachen, werden dennoch dankbar angenommen – und später von den Teilnehmenden als großes Geschenk gesehen.

Die brasilianische Kultur ist stärker auf das Soziale ausgerichtet und weniger auf das Individuum. Oder wie eine Teilnehmerin es ausdrückte (sie ist in einer Favela aufgewachsen und hat 10 Geschwister): „Individualität ist ein Privileg. Ich habe mir im Forum dieses Privileg erarbeitet. Hier habe ich das erste Mal erlebt, dass ich mich selbst fühlen darf.“

Vertrauen und Transparenz

Was bedeutet Vertrauen im brasilianischen Kontext? Ein thematisches Forum zeigte: Verabredungen einhalten kommt an erster Stelle. (Oh ja, wie oft Zusagen nicht eingehalten werden und Menschen abspringen - davon können wir als Veranstalterinnen ein Lied singen). Transparenz kommt überraschenderweise schon an zweiter Stelle – dabei ist es in Brasilien überhaupt nicht üblich, sich unangenehme Wahrheiten ins Gesicht zu sagen („typisch deutsch – ihr seid so hart“ kommt oft als Feedback).

Wahrheiten aber gar nicht auszusprechen, zerstört in ihrer Erfahrung viele Beziehungen. Daher gibt es eine große Wertschätzung für den Schwerpunkt auf Feedback, den das Forum anbietet. In unseren Kursen zeigte sich, dass schneller als in Deutschland sehr viel Positives ausgesprochen wird und in all dem (nach einigen Feedbackübungen) auch kritische oder herausfordernde Rückmeldungen Platz haben. Hier schließt sich die Frage an, wie weit die deutsch-zeggianische Transparenz- und Feedback Kultur in einem brasilianischen Kontext überhaupt angemessen ist? Denn wir können zwar unterstützen, wie Dinge formuliert und eingeordnet werden; aber wir haben wenig Einfluss darauf, wie das Gesagte dann aufgenommen und verstanden wird. Die, die länger mit uns arbeiten (teilweise viele Jahre), sind sehr dankbar für die Möglichkeit, so vertieften und ehrlichen Kontakt zu erleben. Aber in kürzeren Kontexten ist es schwieriger. Ein extremes Beispiel nannte ein Teilnehmer aus einer Favela: „Wir können Forum nur im inneren Kreis anwenden. Draußen in der Favela kann es passieren, dass heute etwas im Forum gesagt wird und derjenige dafür dann morgen auf der Straße erschossen wird.“

Frankreich

Ursprünglich dachte ich, dass nach den Kursen in Lateinamerika und Spanien die französische Kultur unserer näher ist. Ich fühle mich in ihr beheimateter, habe ich doch meine Schulzeit auf einem deutsch-französischen Gymnasium verbracht und war daher französische Lehrer:innen und Mitschüler:innen gewöhnt. Ich wurde auch sehr schnell an den damaligen Unterricht erinnert – denn die Lehrer-Schüler-Beziehung ist eine völlig andere als in Deutschland. „Ein Lehrer ist in Frankreich eine Rolle, die sich nicht als Mensch zeigt: Nie würde ein Lehrer seine Klasse nach Hause einladen“, teilte uns ein Franzose mit.

Struktur und Sicherheit

Die Rolle und die damit verbundene Struktur werden in Frankreich viel stärker eingefordert als in Deutschland – und gleichzeitig mehr herausgefordert. Wo wir in anderen Ländern einen wohlwollenden Rahmen als Basis einfach benennen, haben wir beim letzten Kurs in Frankreich jede einzelne Formulierung dieses Rahmens gemeinsam erarbeitet, damit Menschen sich sicher fühlen. Was ist erlaubt zu sagen und was nicht? Wie formuliere ich Feedback, ohne andere zu verletzen? Auch hier in Frankreich ist dies ein Kernthema. Doch ganz anders als in Brasilien, wo viele Dinge ausgesprochen werden und die Beziehung dann schnell in Frage gestellt oder sogar abgebrochen wird: In Frankreich findet die Enttäuschung und damit ein Rückzug bereits im Inneren statt, die Selbstzensur ist wesentlich höher als in Brasilien oder Deutschland.

Um Sicherheit zu erlangen wird die Struktur von der Leitung eingefordert. Und detaillierte Fragen nach dem Vorgehen in Einzelsituationen gestellt. Was für uns als Ausbilder:innen oft schwierig ist, denn es gibt kein Pauschalvorgehen. Die Hauptantwort auf solche Fragen ist meist: „Es hängt davon ab...“. Forum ist nun mal kein Werkzeug, was Schritt für Schritt angewendet werden kann und dann zu einem Ergebnis führt. Es ist eine Haltung, die auf Vertrauen aufbaut und je nach Situation sind die Antworten völlig unterschiedlich. Was nicht immer leicht zu vermitteln ist. Für uns völlig überraschend: Struktur gibt tatsächlich Sicherheit auch in einer atmosphärisch aufgewühlten Situation. Sobald wir einen inhaltlichen Input ankündigen, sind alle Emotionen wie weggeblasen, alle Teilnehmer:innen holen ihre Hefte heraus und schreiben mit.

Das französische Bürgertum ist konservativer als in Deutschland und die Gegenbewegungen darauf stärker, rebellischer. Autorität führt zu einer stark angepassten Haltung – und wenn es dann im Forum um tiefere Schichten geht, brechen alte Verwundungen, die damit einhergehen, auf. Häufiger als in Deutschland werden in unseren Kursen Gewalterfahrungen von Frauen thematisiert, meist mit dem Hinweis, darüber noch nie gesprochen zu haben. (Was nicht heißen soll, dass es in Deutschland weniger Gewalt gibt….).

Inklusion, Rang und Privilegien

Unsere Klientel in beiden Ländern ist deutlich diverser als im ZEGG. Neben Länderunterschieden liegt es auch daran, dass uns die Inklusion verschiedener Gesellschaftsschichten ein Anliegen ist und wir daher auch ökonomische Modelle favorisieren, die das ermöglichen. Für Brasilien haben wir Stipendien für Menschen aus Favelas gesammelt, in Frankreich arbeiten wir mit anonymen Bieterrunden („participation libre et consciente“), die auch Menschen mit wenig oder sogar ohne Geld eine Teilnahme ermöglichen.

Dies schafft eine wunderbare Vielfalt in den Gruppen. Es kommen Erfahrungen ganz unterschiedlicher Schichten zusammen, wofür wir sehr dankbar sind. Und es erzeugt neue Spannungen: Die Erfahrung zeigte leider, dass Menschen mit Stipendien weniger verbindlich sind in ihrer Teilnahme und uns mehr Energie kosten als andere Menschen, die sich mit Einsatz ihres eigenen Geldes für die Ausbildung entschieden haben. Und es bringt das Thema Rang und Privilegien stärker auf den Tisch als wir es in anderen Kursen hatten. Menschen, die mit Stipendien an solchen Kursen teilnehmen, haben oft ein anderes Sendungsbewusstsein und fordern Rücksicht auf ihren gesellschaftlich niedrigeren Status vehement ein (Für Erfahrene in der Prozessarbeit: Mindell nennt dies den demokratischen Rang). So hatten wir sowohl in Brasilien mit Menschen aus der Favela als auch in Frankreich mit „militanten Queers aus besetzten Häusern“ Situationen, in denen diese Menschen Bevorzugung einforderten und gleichzeitig alle Wege ablehnten, Kontakt und Verstehen aufzubauen – mit dem Hinweis, dass wir das nicht verstehen können.

Eine Zwickmühle: Denn es stimmt ja, dass wir nicht dieselben Erfahrungen haben. Wir Privilegierte werden dadurch mit unserem hohen (und häufig unsensibleren) Rang konfrontiert. Diese Chance gibt es im ZEGG oft nicht, wenn die Gruppen homogener sind. (Vielleicht scheinen sie auch nur homogener, da es weniger thematisiert wird - zu diesem Thema können wir im ZEGG sicher noch einiges dazu lernen). Und das Forum soll ja auch dazu dienen, Brücken zu bauen. So konnten wir immer wieder Situationen schaffen, in denen wir Menschen mit niedrigerem Rang eine Stimme gegeben haben.

Auf der anderen Seite gibt es jedoch Grenzen. Wo alte Erfahrung und Schmerzen zu groß sind und diese Verletzung dann auf die Mitteilnehmer:innen übertragen wird, entsteht neue Entfremdung. Viele, viele Einzelgespräche halfen uns, auch hier mit kleinen Vertrauensschritten weiter zu gehen: immer wieder Kontakt herzustellen, Öffnung einzuladen, Bewusstsein zu schaffen und neue Erfahrungen zu ermöglichen. Innerhalb der Gruppe ist es uns gelungen. In zwei Situationen, in denen konkrete alte Konflikte zwischen den Teilnehmer:innen hinzukamen, nicht. Hier haben einzelne den Kurs abgebrochen. Auch hier ist die Erfahrung: das Forum kann nicht alles. Es dient nicht dazu, das Außen direkt zu verändern. Es braucht die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf die eigenen Themen einzulassen. Eigen- und Innenarbeit ist ein unabdinglicher Bestandteil der Forumsarbeit.

Resumé

Auch wenn ich hier vor allem die Unterschiede und einzelne Spannungen formuliert habe: die Forumsarbeit in anderen Ländern wird sehr dankbar aufgenommen. Menschen fühlen eine neue Möglichkeit, sich mit sich und anderen zu verbinden und konstruktiver mit Konflikten umzugehen. Wie auch in Deutschland zerbrechen die meisten Gruppen ja nicht an äußeren, sondern an inneren Schwierigkeiten und so können wir mit unserer Arbeit ein klein wenig dazu beitragen, dass Kooperation besser gelingt.

Und: In Zeiten des Klimawandels sind Flugreisen kein Mittel der Wahl mehr für mich, daher habe ich meine Arbeit in Brasilien mit dieser Reise beendet. Meine Kollegin Ita, die in Brasilien lebt, und die dortigen Forumsleiter:innen werden sie weiterführen.

Nach Frankreich fahren Schnellzüge, dort setzen Ena und ich unsere Arbeit fort. Da die Franzosen ja gut in Struktur sind, gibt es dort auch schon einen Verein, einen Newsletter und eine Homepage. Unter forumzegg.fr könnt ihr die verschiedenen Angebote zum Forum finden.