Das Buch „Die große Kokreation – eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen“ zog mich sofort an: „Kokreation“ klang verlockend für mich, nach gemeinsamem Wirken, nach Kreativität und Lust am Gestalten. Bald hatte mich das Buch von Jascha Rohr so gepackt, dass ich es nun zusammenfassen möchte – als Einstieg und Anreiz, sich selbst mit Kokreation zu beschäftigen.
Dabei beantworte ich die folgenden Fragen:
- Was ist Kokreation (nach Jascha Rohr)?
- Wie können wir Transformationsprozesse besser verstehen?
- Wer kreiert hier mit wem?
- Wofür überhaupt Kokreation?
- Warum die „große“ Kokreation?
- Wie verstehe ich Kokreation persönlich?
- Was hätte ich mir noch von dem Buch gewünscht?
Viel Freude beim Lesen!
Was ist Kokreation (nach Jascha Rohr)?
Kokreation ist ein intensiver Prozess, bei dem am Ende etwas völlig Neues entsteht. Auf dem Weg dahin haben sich alle Beteiligten, die Organisation und das Umfeld unweigerlich mitverwandelt.
Am Anfang steht eine gemeinsame Vision. Die schönere Welt, die unser Herz kennt und die es zu benennen gilt. Was soll am Ende anders, besser sein?
„Es gibt kaum etwas Mächtigeres als die Verwirklichung einer gemeinsamen Vision. (…) Wenn Projekte mit einer starken Vision übereinstimmen, fallen die Dinge an ihren Platz, werden kongruent, bestärken sich gegenseitig und werden zu natürlichen Teilen eines größeren Ganzen. Sie sind potenter und kraftvoller als jedes einzelne Projekt oder jede fragmentarische Maßnahme im Schnellschuss, die nicht mit einer verbindenden Vision abgeglichen ist.“
Dann wird eine Intention (eine klar formulierte Absicht) gesetzt. Sie bringt die notwendige Aktivierungsenergie und gibt eine erste Richtung vor. Durch eine klare Intention beginnen wir noch tiefer in den Prozess einzutauchen.
Und es braucht Geschichten, die die Vision lebendig werden lassen, die berühren, ermutigen und ins Tun bringen.
Der Prozess beginnt, wenn wir merken, dass die alten Antworten auf unsere Fragen nicht mehr ausreichen und keine Kraft mehr haben. Veränderung ist lebensnotwendig. Sie ist eine ständige Entwicklung durch Lernen, Wachsen und Integrieren.
Manchmal genügen Anpassungen und Verbesserungen aber nicht mehr für das Überleben einer Organisation. Sie muss sich vollständig neu erfinden. Das kann so weit gehen, dass wir die ursprüngliche Form nicht mehr wiedererkennen und etwas ganz Neues entsteht. Dann erst hat eine echte Transformation stattgefunden.
Kokreation als Prozess
Kokreation ist ein sehr strukturierter Prozess. Das theoretische, durch viel Erfahrung bestätigte Modell erklärt, was idealerweise passiert, wenn eine Gruppe durch einen Prozess der Neuausrichtung und Transformation geht. Damit können auch Menschen, die nicht die Intuition und Erfahrung begnadeter Moderator:innen haben, lernen, solche Prozesse erfolgreich zu begleiten.
„Der Prozess hat ein eigenes Wesen, eine eigene Dynamik, eine eigene DNA. … Wenn es uns gelingt, den Prozess zu verstehen und mit ihm zu kommunizieren, haben wir vielleicht das Glück, dass unsere Methodik auf allen Ebenen den Prozess unterstützt, ihm in seiner Entfaltung und Entwicklung behilflich ist, mit ihm tanzt und seine Lebendigkeit fördert“ (S. 56)
Daher ist das Modell nicht als „Kochrezept“ oder eine detaillierte Anleitung zu verstehen. Gruppen, die gemeinsam durch einen Kokreations-Prozess gehen und diesen gestalten, erhalten statt dessen im Buch Orientierung und Werkzeuge sowie die Ermutigung selbst Werkzeugmacher:innen zu werden.
Wie können wir Transformationsprozesse besser verstehen?
Das Feld-Prozess-Modell ist ein hilfreiches Modell für kokreative Transformations- und Gestaltungsprozesse. Es gliedert sich in 4 Phasen:
1. Resonanz
In dieser ersten Phase bereiten sich alle Beteiligten aus dem Ist-Zustand heraus auf den Weg ins Unbekannte vor: „Hierfür müssen alle relevanten Themen, Fragen, Konflikte, Probleme und
Herausforderungen gesammelt und zudem alle vorhandenen Ideen und Visionen gesichtet und diskutiert werden. Ziel ist es, herauszuarbeiten, worum es im Kern gehen soll“ (S.32).
Je besser das gelingt, desto intensiver wird der Prozess und desto schneller wird er nach Jascha Rohr an „kritische Punkte führen, die alle Beteiligten miteinander durchleben müssen. Ganz so, als liefe alles geradewegs auf einen dunklen Tunnel zu, der ins Unbekannte führt“ (S.33). Dieser Tunnel markiere die zweite Phase, die Krise.
2. Krise
In der Krise stellen sich die Beteiligten schwierigen Fragen, Aufgaben, Konflikten und Erkenntnissen: „Alte Verletzungen und aktuelle Interessenskonflikte werden auftauchen, Ressourcen fehlen oder Ideen an der Realität scheitern. Möglicherweise gilt es, unangenehme Entscheidungen zu treffen und gewohnte Dinge zu verändern, Wünsche und Vorstellungen aufzugeben …, Ängste zu überwinden, liebgewonnene Wahrheiten über Bord zu werfen und Verhalten zu ändern. Diese Phase, in der es eng und unangenehm werden und der Druck hoch sein kann, ist die Voraussetzung für eine echte Transformation... Ist der Tunnel aber erst einmal durchschritten, öffnet sich der Blick wieder und erfasst neue Horizonte und Möglichkeiten.“ (S.33)
3. Kokreation
Diese Phase „beginnt gewissermaßen im Unbekannten am anderen Ende des Tunnels“. Sie ist die „Belohnung für die anstrengende Reise“:
„Der ausgehaltene Blick in die eigenen Abgründe, die bearbeiteten Konflikte und gefassten Entscheidungen, der Mut und das Vertrauen ins Neue und der feste Entschluss, dieses Neue zu wagen und auszuprobieren, erlauben es jetzt, dieses aufkommende Neue aktiv mit viel Fantasie und Kreativität mitzugestalten.“ (S.34)
Die Entscheidungen dieser Phase geben „neue Orientierung und neue Perspektiven“, die Gestaltung der Zukunft könne nun beginnen.
4. Kultivierung
Jetzt gehe es darum, etwas aufzubauen und langfristig zu entwickeln. Auch darum, Dinge neu einzurichten und auch die Früchte des Erfolgs zu ernten: „Insgesamt soll wieder Stabilität erreicht werden“ (S. 34). Denn es sei eine Verschwendung von Energie und eine Enttäuschung für alle, die mitgemacht hätten, wenn sich am Ende nichts von den neuen Ideen in Strukturen und Handeln umsetzen lasse. Denn nach Jascha Rohr brauche Engagement die Bestätigung von Wirkung:
„Wer sich nicht als wirksam erlebt, macht beim nächsten Mal nicht mehr mit. Jeder Mensch, der Einsatz zeigt, möchte eine Veränderung sehen. Nachhaltige Zukunft gelingt daher nur, wenn auch diese Phase (der Kultivierung) ausreichend beachtet und von Anfang an mitbedacht und vorbereitet wird.“ (S. 34)
Wer kreiert hier mit wem?
Eines der wesentlichen Übel unserer Kultur und Gesellschaft und eine der Hauptursachen für die Situation, in der wir heute global stecken, ist nach Jascha Rohr der Subjekt-Objekt- Dualismus. Wenn jemand oder etwas zum Objekt degradiert wird, dann kann „es“ beherrscht, ausgebeutet, unterdrückt, erniedrigt und sogar getötet werden. Ein Objekt ist de facto alles, was nicht menschlich ist, und oft werden sogar Menschen zum Objekt gemacht, weil sie nicht der bestimmenden Klasse angehören.
Die bisherigen Ansätze von Zusammenarbeit beziehen sich meist nur auf das gemeinsame Wirken von Menschen. Dagegen möchte Jascha Rohr ermutigen, bei der Kokreation viel mehr mitzudenken:
„Das „Ko“ muss sich auf alle Mitmenschen, Mitgeschöpfe, Mitlebewesen, Mitdinge, kurz unsere gesamte Mitwelt beziehen. Dazu gehören auch abstrakte Dinge, wie Geschichten und Geschichte, Räume und Orte, Konzepte und Ideen, Kräfte und Energien, Systeme und Netzwerke, …Maschinen, Prozesse und Institutionen. Sie alle machen unsere Welt aus, sie haben Einfluss, Wirkung und Macht. Sie alle sind unser produktives Gegenüber, das „Ko“ der Kokreation.“ (S.61).
Für all diese Mitdinge führt er den Begriff „Partizipateure“ ein. Er impliziert, dass alles gleichberechtigt am Prozess mitgestaltet. Im konkreten Prozess fokussieren wir daher auch weniger auf die beteiligten Menschen, sondern auf die Wirkungen, Atmosphären und Dynamiken, die sich in diesem Raum zwischen den Dingen, Menschen und Themen entfalten: auf das „Feld“.
Das Wertvollste, das wir in eine Kokreation einbringen können, ist unser eigener Prozess, der immer auch den Prozess der Kontexte widerspiegelt, in denen wir uns bewegen. Das erfordert laut Jascha von uns allen den Mut, uns transparent zu machen und verletzlich zu zeigen:
„Das heißt für unsere Arbeit: Während die beteiligten Menschen eine konkrete Veränderung für die Welt entwerfen, verändern sie sich und ihre Institutionen gleich mit. (…)
Das ist wirklich Kokreation und das macht unsere Arbeit so überaus komplex und anspruchsvoll. Gleichzeitig ist sie aber auch abwechslungsreich, herausfordernd, bereichernd, und, wenn echte Transformation gelingt, extrem befriedigend, denn dann haben auch wir uns transformiert, sind gewachsen und haben uns entwickelt."
Wofür überhaupt Kokreation?
Jascha Rohr schreibt dazu: „Transformation hat einen einzigen Zweck: kollabierende Strukturen und toxische Kulturen umzubauen – in nachhaltige Strukturen und lebendige Kulturen. Transformation soll eine Zukunft der Menschheit ermöglichen, sie soll dafür sorgen, dass die planetaren Grenzen eingehalten werden und soziale Ziele der Nachhaltigkeit umgesetzt werden. (…)"
Kokreation ist eine Kulturtechnik, die uns in die Lage versetzt:
● diverse und widerstrebende Akteure und Perspektiven produktiv zusammenzubringen, ohne ihnen ihre Vielfalt zu nehmen,
● uns miteinander, aber auch mit Themen, Orten, Fragestellungen, Rahmenbedingungen in Resonanz und Beziehung zu setzen und so als Beteiligte voninnen heraus zu gestalten,
● unsere kollektiven Traumata und Konflikte ehrlich anzugucken, zu erkennen, zu bearbeiten, zu versöhnen, zu transformieren und zu integrieren. Hier entsteht tatsächlich der neue kulturelle Code für die Transformation, und
● miteinander innovative, konkrete und realisierbare Entwürfe für die Zukunft zu entwickeln. Hier entsteht Gestaltung und Kreation aus gemeinsamer Kreativität.“
(J.Rohr: Ohne Kokreation kann Transformation nicht gelingen. Unter https://table.media/esg/standpunkt/ohne-kokreation-kann-transformation-nicht-gelingen/ ,
Zugriff am 30.10.2023)
Warum die „große" Kokreation?
Durch den Modell-Ansatz wird das Kokreations-Prinzip skalierbar und kann von kleineren Gemeinschaften und Dörfern über Städte und Staaten bis auf eine globale Ebene übertragen werden. Dies kann zu einer planetaren Kokreation führen, in der die großen und globalen Herausforderungen unserer Zeit wirklich angegangen werden können: Wie können wir ein gutes Leben für 10 bis 12 Milliarden Menschen im Jahr 2100 auf der Erde gestalten, ohne diese weiter zu zerstören?
Diese notwendige planetare Kokreation oder auch „global Design Challenge“ nennt Jascha Rohr dann in Anlehnung an Buchtitel und Konzepte wie „Die große Beschleunigung“ (Exponentielles Bevölkerungswachstum seit der Industrialisierung) und „Die große Transformation“ (langsame und notwendige Wende, s. Maja Göpel u.a.) dann die „große“ Kokreation.
Was bedeutet Kokreation für mich persönlich?
Die Beispiele und Geschichten in diesem Buch haben mich sehr persönlich angesprochen und berührt, besonders jene über die Begleitung eines Behindertenwohnheimes (ab Seite 211) und über den Schulentwicklungsprozess in Frankfurt (ab Seite 315).
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich solche Prozesse selbst kenne, auch wenn ich das erstmal nicht an konkreten Erlebnissen festmachen konnte. Dann ist mir aufgefallen, dass jede Heldengeschichte, jedes gute Buch und jeder spannende Film demselben Muster folgen:
Zu Beginn wird in die Geschichte eingeführt und alle wesentlichen Informationen zu den Protagonist:innen, ihrer Historie sowie zur Situation in der Gegenwart gegeben (Phase der Resonanz).
Dabei wird immer spürbarer, dass sich alles auf eine große Krise zubewegt. Es gibt Konflikte, den Kampf mit dem Drachen oder mit dunklen Mächten, und Herausforderungen, die angsteinflößend oder sogar lebensgefährlich sind (Krise).
Haben die Helden diese Phase überlebt (was für gewöhnlich der Fall ist), tun sich plötzlich ganz neue und unerwartete Möglichkeiten auf. Eines fügt sich ins andere und die Zukunft zeigt sich strahlend und vielversprechend. Das ist die Belohnung für die anstrengende Reise (Kokreation).
Die vierte Phase der Kultivierung und Stabilisierung des Erreichten kommt in den Büchern und Filmen meistens nicht mehr vor. Basiert die Erzählung auf einer wahren Geschichte erscheinen vor dem Abspann noch ein paar Hinweise, wie es im Leben der Protagonisten weitergegangen ist. Hier zeigt sich oft eine Phase der Kultivierung.
Solche Geschichten berühren einen tiefen, archaischen Kern in uns. Wir brauchen solche Geschichten, wenn etwas wirklich Neues, noch nie Dagewesenes entstehen soll. Es braucht Mut und als Vorbilder diese Held:innen, damit wir uns selbst auf die Reise machen, dem eigenen Drachen zu begegnen.
Die tiefgreifendste Verwandlung und Kokreation, die mir in meinem Leben passiert ist, war die Geburt unseres Sohnes. Danach war nichts mehr wie vorher. Wir waren nicht mehr dieselben Menschen. Der kokreative Prozess, der dieses neue Leben hervorbrachte, war universell und umfassend. Unsere Körper, Geist und Gefühle haben dazu beigetragen und der Prozess wurde von Freunden, Familie, Ärzt:innen und Hebammen begleitet und unterstützt.
Und doch hatte der Prozess eine ganz eigene Seele, ist völlig anders verlaufen als ich mir das vorher ausgemalt hatte. Die Natur und die Schöpfungskräfte haben das ihre dazu beigetragen und am Ende war dieses kleine neue Lebewesen bei uns, das es in dieser Form noch nie gegeben hatte und nie wieder geben wird.
Die Geburt war eine große überwältigende Krise, wo ich nichts mehr unter Kontrolle hatte und mich nur mehr dem Fluss hingeben konnte. Diese furchteinflößende, existentielle Krise
war in dem Moment vorbei als mir das Neugeborene in den Arm gelegt wurde. Das war das Ende des Tunnels und der Neubeginn in all seiner Schönheit.
Was hätte ich mir von dem Buch noch gewünscht?
Den Hinweis auf eine innere Haltung des Empfangens. Die Idee, dass die Lösungen bereits da sind und durch Lauschen ins Feld auch empfangen werden können, kommt zwar vor, wird
aber nicht vertieft. In die Stille gehen, meditative Zustände fördern, auf „Vision Quest“ gehen… das alles sind Möglichkeiten, die seit Jahrtausenden existieren, um sich mit der Essenz allen Seins zu verbinden und die Erfordernisse des jetzigen Augenblicks quasi„abzurufen“.
Otto Scharmer bezeichnet es auch als ein „Führen aus einer entstehenden Zukunft“ heraus.
Mehr zu der Frage, wie wir Verbundenheit fördern. Denn diese ist wichtig für den Willen zur
Kokreation. Jascha schreibt selbst: „Ein kokreativer Prozess entsteht aus Verbundenheit. Mit sich selbst, anderen, unseren Umwelten und dem Planeten“. Hier könnte er noch mehr zu den Methoden sagen, wie wir zu dieser Verbundenheit kommen: etwa durch gemeinschaftliche Strukturen oder Achtsamkeits- und Meditationspraktiken.
Alles in allem ist es ein wirklich sehr erhellendes, ermutigendes Buch. Es liest sich trotz der Theorie sehr leicht und enthält anschauliche und bewegende Beispiele wie auch praktische Anwendungen. Ich freue mich schon auf viele spannende, wirkmächtige Kokreationen!
Eure Brigitte Erhardt
Heiko und Brigitte Erhardt
Grafiken: Janina Kaphan
Fotos: Mehr Demokratie, Murmann Verlag, Alicia Dieminger
Mehr zum Buch:
https://die-grosse-kokreation.nethttps://die-grosse-kokreation.net
J.Rohr: Ohne Kokreation kann Transformation nicht gelingen.
https://table.media/esg/standpunkt/ohne-kokreation-kann-transformation-nicht-gelingen/
B. Langer: Planetares Fest der Gestaltung – Design für die Rettung der Welt.
https://www.pressenza.com/de/2023/07/planetares-fest-der-gestaltung-design-fuer-die-rettung-der-welt/
Ökodorf Podcast aus Sieben Linden:
https://siebenlinden.org/de/folge-84-wie-kreieren-wir-gemeinsam-eine-lebenswerte-zukunft-mit-jascha-rohr/
„Hoffnung Kokreation - mit Jascha Rohr“, Folge des neuen ZEGG Podcast „Experiment Gemeinschaft“