Das Wort “Natur” wird laut Duden wie folgt beschrieben: “Die Natur ist alles was an organischen und anorganischen Erscheinungen existiert oder sich entwickelt, ohne dem Zutun des Menschens” Unsere aktuelle Definition der Natur, trägt die Krankheit eines Zeitalters mit in sich: Dieunausgesprochene Prämisse, dass der Mensch nicht Natur ist, dass alleine durch seine Berührung, sein Einschreiten, sein Zutun Natur zu etwas Unnatürlichen wird.
Wir haben als westliche Welt nicht nur beinahe die ganze Welt kolonialisiert und unterworfen, sondern auch unsere Art mit uns und mit der Erde in Verbindung zu stehen, damit wir ein solches Verhalten überhaupt erst rechtfertigen konnten und können. Dies ist Teil der Geschichte der Separation des Menschens von der Erde und ist tief in der Art, wie wir unsere Welt verstehen, verwurzelt.
Warum ist diese Geschichte ein Problem? Es erzählt die “universell wahrhaftige Geschichte” von dem Menschen als Parasiten, als bösartigen Virus, der die Erde befallen hat und sie allmählich zerstört und tötet. Versteht mich nicht falsch, ich bin der Letzte, der diese Geschichte nicht glaubt, aber solange es die einzige Geschichte ist, an die wir glauben, wird sie sich immer und immer wieder selbst bestätigen. Werden wir mehr und mehr extrahieren, kommodifizieren, objektifizieren, ohne zu fühlen, was wir dabei verlieren. Lasst uns also anfangen, unsere Glaubenssätze zu dekonstruieren, sie gar zu zerstören, um neue zu kreieren, die nicht von den Alten informiert sind. Sodass wir “neue alte” Arten ergründen können, in Verbindung zu treten, mit der menschlichen und mehr als menschlichen Welt. Ich sage “neue alte” Arten, um anzuerkennen, dass es noch Kulturen gibt, in deren Sprachen es keine Wörter für Natur oder Dominanz gibt; deren Weltanschauung nicht auf der Separation beruht; deren Sprachen nicht in Subjekt und Objekt gesprochen werden, sondern relational; alles in Verbindung zueinander und nicht übereinander.
Eine andere Geschichte also: Nicht vom Menschen als Parasiten, sondern vom Menschen als Symbionten, vom Menschen als Wirt, vom Menschen so tief verwoben, dass die Idee, uns jemals als getrennt zu betrachten, blasphemisch wirkt.
Und um damit zu starten nehme ich wieder ein Bild, das Bayo Akomolafe gemalt hat:
Wer von euch hat schon mal eine Ameisenstraße beobachtet, eine Straße wo die eine Ameise der nächsten folgt? Wo die Pheromone die Königin informieren und Realitäten neu formen, wo Notwendigkeiten sich verkörpern und zum Beispiel Ameisen mit größeren Mandibeln geboren werden, sollte dies dienlich sein. Ein faszinierendes komplexes Informationsnetzwerk. Und wer von euch hat diese Pheromonenpfade schon einmal unterbrochen? Was dann passiert, also wenn ein Schuh den Pfad teilt, ist: die Ameisen finden ihren Weg nicht um den Schuh herum und fangen an, im Kreis zu laufen. Und sie sind nicht in der Lage, daraus auszubrechen. Sie sind in ihrem Pheromonen-Gefängnis eingesperrt, unfähig zu entkommen, sie folgen blind der Ameise, die vor ihnen kam. Stell dir vor du seist eine Ameise und du sagst dir, “Wir sind kurz davor endlich anzukommen”, die nächste rechts und wir sind da, die nächste rechts, die nächste Erfindung, das
nächste Etwas und wir sind endlich da, und die Ameisen erschöpfen und sterben und keine hat es geschafft, anders zu gehen.
Auf gewisse Art und Weise sind wir als Menschen auch gefangen, tun dieselben Dinge wieder und wieder, nehmen statt Öl Lithium und Silber, fahren statt Autos E-Autos, verbrennen statt Erdgas Bio-Gas. Wir arrangieren auf intelligente Art und Weise die Schriften mit den gleichen Worten auf dem gleichen Papier neu; feiern uns, die Welt neu erfunden zu haben und bringen uns näher zu unserer Verdammnis. Wir gehen weiter im Kreis. Was wir brauchen sind Meutereien, um aus diesem Kreis auszubrechen; Risse, Frakturen, die einladen, sich anders durch die Welt zu bewegen als
unsere bequeme Beständigkeit; was wir brauchen ist ein Gestikulieren zu anderen Realitäten, kein Manifest, keine Schritt für Schritt Anleitung, denn diese tragen die Gefahr in sich, das Pheromonen-Gefängnis zu wiederholen. Wir müssen uns erst in das Ungewisse wagen, alte Informationen hinterfragen, um neue Realitäten einzuladen. Und wie können solche Brüche entstehen, wie können wir anfangen, Risse zu sehen statt unüberwindbare Mauern?
Für die Ameisen gibt es einen Weg weg von ihrem Gefängnis, und der Weg heißt Cordyceps: ein Pilz, der die Ameise befällt und sie dazu bringt, ihre ihr aufgelegte Funktion abzulegen, ihren Nutzen aufzugeben und ihren Namen neu zu leben. Sie entkommt. Sie driftet von dannen, beißt ihre Mandibel in die Unterseite eines Blattes, quert den Tod und aus ihr selbst sprießt ein Pilz, der neue Sporen sprüht und wieder infiziert und sie multipel wird. Die Ameise war in der Lage, anders zu gehen, als sie ihre Individualität aufgegeben hat und nicht mehr den Dingen nachgegangen ist, die
die Ameisenwelt von ihr erwartet; die Welt anders gesehen hat, Leben und Sterben für sich neu definiert und das andere in sich akzeptiert hat.
Wenn wir also mit Demut auf die Welt schauen, die Erde zentrieren und uns nicht anmaßen, alles durch die Brille der Naturwissenschaft zu sehen, dann fallen uns vielleicht die Risse in der Brille auf. Risse, die das Licht brechen und einen Teil der Welt unsichtbar für die machen, die gelernt haben, nur durch diese Brille zu verstehen. Eine Wahrheit, die sich im Kreise dreht. Ohne Brille, ohne den Fokus, sehen wir vielleicht nicht nur eine Pflanze, die einen Namen trägt und zu einer Jahreszeit lebt, sondern eine Pflanze, die Freunde hat, die sich besonders gut mit dieser anderen versteht, am
liebsten in der Sonne weht; sie regelmäßige Treffen mit dieser einen Schwebfliegen-Sorte hegt, die wiederum die Brut dieses einen Vogels pflegt. Und wenn ich diese Pflanze ernte, bedankt sie sich mit mehr Wachstum, damit wir alle uns noch mehr mit ihr verweben dürfen. Wer bin ich, sie auf ihren lateinischen Namen zu beschränken und ihr alle Beziehungen abzupflechten. Sie ist so viel mehr.
Aber wir Menschen haben eine Brille auf, schauen auf uns selbst und auf unsere Probleme: reduziert, hyper-fokussiert, kalt und nicht relational. Wir sollten mehr Ökologie sehen, anstatt Ökonomie zu betreiben. Ökologie und Ökonomie kommen beide von griechisch Oikos, Haus. Wohingegen die Ökologie die Lehre des Hauses ist, die Lehre der Erde, der Natur im ganzheitlichen Sinne, ist die Ökonomie übersetzt das Management des Hauses: unsere Anmaßung, die Erde kontrollieren zu können. Diktieren zu dürfen, welche Freunde und welche nicht unsere Pflanze lebt. Nein, es fehlt eine relationale Ökonomie, die die Qualität von Verbindungen in den Vordergrund stellt und nicht Materie. Die Verwobenheit sieht und schätzt, ohne zu versuchen, sie zu entzwirbeln und zu entknoten. Sie nicht bis auf die letzte Zelle definiert, denn wo bleibt sonst die Magie? Wie sehe ich sonst die Essenz neben bloßer Existenz?
Was ist also meine Verbindung zu der Erde? Sie ist mein Haus und ich ihr Bewohner, sie mein Wirtshaus und ich ihr Klient, sie mein Wirt und ich ihr Symbiont. Wenn eine Spinne ihr Netz hält und ein Teil des Netzes zerbricht, erleidet sie das etwaige Äquivalent eines Schlaganfalls. Sie ist eins mit ihrem Netz. Kein Wunder, dass wir als Menschen, verwoben mit der Erde, die sich in einem dauerhaften Stresszustand befindet, auch gestresst werden und darunter leiden. Und kein Wunder, dass ich dann diese Verbindung leugnen möchte. Wir müssen lernen diesen Stress kollektiv zu tragen, zu trauern und zu bedauern, nicht alleine, sondern zusammen. Wir müssen zurückschneiden, uns zurückschneiden, nicht um zu kontrollieren, sondern um zu konservieren.
Damit der Baum, die Welt mehr Frucht für mehr Jahre für mehr Lebewesen sein kann und alles, was es braucht, ist ein Shift in der Intention und unserer Vision.
In der, wie wir unseren Mitsymbionten begegnen, uns als Virus hinterfragen und sagen, wir akzeptieren das andere in uns und werden zur Pilz befallenen Ameise. Sind selbst Wirtshäuser, voller Symbionten, voller Bakterien, Viren, Pilze, ohne die wir nicht leben könnten. Tatsächlich sind über 90% unserer Zellen nicht menschlich und dennoch unsere. Wir sind ein ganzes Ökosystem und wir sind viele. Wir haben Bakterien, die in unserem Darm leben und uns mit wertvollen Vitaminen und Mineralien versorgen. Mikroben, die unsere Haut bewohnen und uns mit der Abwehr ungewollter Bakterien belohnen. Und noch viele mehr, mit denen ich mein Leben verweilen werde und die, wenn
meine menschlichen Zellen aufhören sich zu teilen, nicht mitbekommen, dass ich sterbe, sondern nur merken, dass ich anders werde und meine Essenz sich verformt und in ein vieles zerfließt. Ich bin selbst nach der Duden-Definition so voller Natur, voller organischer Erscheinungen, ohne dass ich meine Finger im Spiel hatte, dass “ich” unmöglich nicht auch Natur bin und immer sein werde!
Etymologisch stammt “Natur” aus dem lateinischen und von dem Verb nasci, gebären, also das, was von der Erde geboren wird. Wir als Extension von der Erde, nicht die Erde als Erweiterung von uns. Es braucht nur eine Geburt neuer alter Arten zu sein und zu verstehen, eben die Welt wieder relational zu sehen.
Versuche der Erde zu lauschen, ihrer Geschichten, ihrem Leben und gib ihr durch dich Atem, lass sie durch dich sprechen. Sodass du ihrer Geschichte wieder neuen Geist einhauchst.
Atem kommt von dem indogermanischen atma, Seele, und wenn wir der Erde wieder unseren Atem geben anstatt uns Menschen, ihr Geschichten schenken, ihr Lieder widmen, sie wieder beseelen, schaffen wir es, eine Verbindung zu kreieren die über unser Ego hinausgeht, die über Generationen weitergetragen werden kann, Verbindung lehrt, und aus objektifizierten Bäumen Erde und Holz, Luft und Wasser, Lebewesen gebärt, deren Atem wir teilen. Die uns beseelen, so wie wir sie. Wir sind Natur, wir müssen nur aufhören uns wie eine Krankheit zu verhalten und wieder erlernen, Symbionten
zu sein, denn wir können es sein. Doch das heißt auch, dass wir aktiv sein müssen und sich verbunden fühlen, ist nun mal nicht, in Verbundenheit zu leben. Ein Symbiont wirkt sich aktiv förderlich auf seinen Wirt aus und dazu möchte ich uns motivieren. Seid Symbionten und gute Wirtshäuser.
Leon Herweg